Das Gewicht der Gegenwart 3. August 2023

Tenet (2020)


Titel und Handlung ein Palindrom.
Der Vergleich von Christopher Nolans Tenet und den Bond-Filmen liegt nahe. Beide sind Agententhriller. Tenets “Protagonist” (John David Washington) ist ebenso elegant gekleidet, smart und gewitzt wie der Doppelnullagent. Seine Dominanz gegenüber dem Gegenspieler – in Tenet wie oft bei James Bond, ein Russe – und dessen Schergen etabliert er mit süffisanter Zunge. Und kommt es – zwangsläufig – doch zum Faustkampf, geht der Protagonist hier wie dort nicht nur unerschrocken hinein, sondern auch unblessiert wieder heraus: An den Scharmützeln leiden weder Anzug noch Haar- oder Bartfrisur. So schnell gezeichnete Parallelen zu den Bond-Filmen helfen zum Verständnis von Tenet nur bedingt, sind es doch daneben vor allem die Unterschiede, die ins Auge fallen.

Nolan orientiert sich bei der Zeichnung des Hauptcharakters an den alten Bond-Filmen: Über die Person des Protagonisten, seine Herkunft, Vorlieben und privaten Probleme erfahren wir ebenso wenig wie ehemals über den von Moore und Connery gespielten Agenten. Informiert werden wir einzig über die Getränkevorliebe: hier Martini, dort unbedingt Alkoholfreies, die Cola am liebsten auch noch zuckerfrei. Nicht einmal einen Namen hat der Protagonist. Damit hebt sich Tenet angenehm von den Bond-Filmen neueren Datums ab, die am Ende nur mehr ein Psychogramm des Protagonisten zeichneten. Zum Glück verschont uns Tenet aber wie die neueren Bond-Filme vor sexistischen Sprüchen, die früher zu Bond gehörten wie der Deckel zum Topf.

Weil diese Abkehr vom Sexismus aber keineswegs ein Verbot der Erotik bedeutet, ist zumindest einer Frage wert, warum Nolan seinem Hauptdarsteller zwar mit Katherine (Elisabeth Debicki) ein weibliches Gegenübers schafft, es aber trotz scheinbarer Anziehung der Charaktere zu keinerlei tatsächlicher Annäherung kommt: Warum hat Nolans Bond kein „Bond-Girl“? Oder, mit den Worten von Neil (Robert Pattinson):

Neil: Nou’re not heading back to London to check on Kat, are you?

Alle diesbezüglich bestehenden Erwartungen bricht der Film. Die doppelte Enthaltsamkeit des Protagonisten – keine Frau und (trotzdem auch) kein Alkohol – entspricht exakt der zerstörten Hoffnung Katheries, sich ihres tyrannischen Mannes schon auf dem Segeltörn entledigen zu können: Die Privatpersonen und ihre noch so berechtigten Anliegen müssen warten. Ganz anders auch hier etwa Goldeneye:

Alec: For England, James? James: No, for me.

Die Blaupause Bond als Interpretationsschema kommt hier an ihre Grenzen.

Gleichwohl ist das Drama um Katherine, Andrei und ihren gemeinsamen Sohn keine bloß arbiträre Rahmenhandlung. Nolan will uns sagen, dass es etwas Wichtigeres als privaten Seelenfrieden gibt. Um aber mit dem Anspruch auf eine vermeintlich einfache Idylle brechen zu können, muss er ihn zunächst formulieren. Dies eben macht Katherine. Bemüht wird dafür konkret das vermeintlich Natürlichste überhaupt: die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Was sollte es Wichtigeres geben?

Enttäuscht wird auch die (nach Inception aber vermutlich schon naive) Erwartung nach einem linearen Handlungsverlauf. Wie die Charaktere selbst, müssen auch die Zuschauer*innen mit der Komplexität klarkommen, die die filmische Gegenwart gewordene Existenz sogenannter Drehkreuze (turnstiles) bedeutet: diese invertieren den Zeitvektor aller Objekte, die sie passieren. In ihnen tauschen Vergangenheit und Zukunft, relativ zum Beobachter, den Ort. Die Rekonstruktion der Handlung als einer linearen wird so unterwandert.Die Gegenwart wird zu dem Ort, an dem zwei gegenläufige Zeitläufe kopräsent sind, worin Tenet einer Legion von Vorgängern folgt. Was ihn aber von diesen unterscheidet, ist die einfache Antwort, die er auf die Frage danach gibt, warum die Kopräsenz zweier Zeitläufe als Krieg gewärtig wird:

Priya: We’re being attacked. Not by terrorists or rogue states… Protagonist: Who, then? Priya: We’re being attacked by the future. And we’re fighting over time. Protagonist: Time? Priya: Theirs is running out, so they’re coming for ours.

Es ist also unser Zeitlauf, der – so die Tenet zugrunde liegende Struktur – zu einer Zukunft führt, die ihrer eigenen Zukunftsperspektive beraubt ist. Ein Ausweg scheint nur noch in der Umkehr des Zeitlaufs selbst möglich: Was die “Zukunft” – hier personifiziert zur Kriegspartei – in der Gegenwart des Films versucht und einzig noch versuchen kann, ist, ihre eigene Vorgeschichte auszulöschen. Aber geht das? Oder verstrickt sich der Film damit in einen Widerspruch: Löscht sich eine Zukunft, die sich ihrer eigenen Vorgeschichte beraubt, nicht selbst aus?

Tenet spricht auch dies beim Namen, als Großvaterparadox, das allerdings nach Tenet weiterhin einer Lösung harrt. Nolan stellt an entscheidender Stelle ab auf den belief der Zeitreisenden, dem die Hoffnung, eine solche Aktion sei möglich, vollständig genügt.

Protagonist: I’ve been thinking… we’re their ancestors. If they destroy us, won’t that destroy them? Neil: Bringing us to the grandfather paradox. Protagonist: The what? Neil: The classic thought experiment – if you went back in time and killed your own grandfahter, how could you have been born to commit the act? Protagonist: What’s the answer? Neil: There is no answer, it’s a paradox. But in the future, those in power clearly believe that you can kick Grandpa down the stairs, gouge his eyes and slit his throat without consequence.

Eindringlich ist der Kontrast zwischen der als hochtechnisiert gezeichneten “Zukunft”, die den Zeitlauf umzudrehen vermag, und dem Rekurs auf den Glauben: Einzig das Nichtwissen bewahrt die Handlungsfähigkeit und zumindest die Hoffnung darauf, dem Fatalismus zu entkommen. Bei aller Technikgläubigkeit, die in dieser Zukunftsvision steckt, ist darin noch stärker ausgedrückt, dass schier unendlich anmutende technische Fähigkeiten mancherorts wirkungslos bleiben. Neil, in der zitierten Szene schwerbewaffnet, äußert eine Wahrheit, ganz naiv.

Was steht also auf dem Spiel? Gelingt es nicht, den Zeitlauf zu wandeln, mündet die Gegenwart unumgänglich in eine Zukunft ohne Zukunft. Gelingt es doch, dann ist nicht das Problem umgangen, sondern lediglich die Zeit gewonnen, durch zukünftiges Handeln nicht in einer Zukunft anzulangen, die keinen anderen Ausweg weiß als die eigene Auslöschung: “[W]e’re fighting over time.”

Die Deutung des Films als eine Allegorie für die Klimakatastrophe liegt damit auf der Hand. Hier wie dort bleibt – wenn überhaupt – nur wenig Zeit und hier wie dort kann der Ausweg nicht der Abflug von der Erde, sondern nur im Umgang mit den von ihr gesetzten Grenzen liegen. Von der Flucht auf den Mars zu träumen, das muss man sich leisten können. Anders als ehedem erscheint die Zukunft auch nicht mehr als ungewiss. Die Prognosen bezüglich des Klimas und die Handlungen der Krieger aus der Zukunft lassen keinen Zweifel mehr: das Gewicht der Gegenwart zieht die kommende Zeit mit sich in den Abgrund. Was ehemals weitgehend unbeschriebene Projektionsfläche einer „bright future“ sein konnte, das ist bereits in beträchtlichem Maße antizipierbar als zappenduster. Wie die Klimaforscher* innen eine noch unrealisierte Möglichkeit, die wüste Welt, entwerfen, so auch Tenet. Aber Nolan kann, eben weil er sein Metier der Film und nicht die wissenschaftliche Studie ist, ein Bild zeichnen, das eindrücklicher wirkt. Vor allem auch, weil hier auch die Form und nicht nur der verhandelte Stoff, Moment der Darstellung ist.

Die Zuspitzung, die Nolan hier vornimmt, verdichtet alles auf den Moment der Entscheidung, der genretypisch als Endschlacht ausgetragen wird. Gekämpft wird auf beiden Seiten. Auf der einen gegen eine Vorgeschichte, die der Zukunft noch Perspektiven lässt. Auf der anderen gegen eine Zukunft, die das Urteil über die Gegenwart bereits getroffen haben wird. Das ist Anklage und Aufforderung zugleich. Und korreliert nicht zuletzt auch mit der Selbstdarstellung von Politiker* innen, die gerne Machtworte sprechen und davon reden, selbst die Entscheidung zu suchen.

Es scheint mir, als hätte Nolan den zarten Optimismus, den Tenet diesbezüglich noch zu hegen erlaubt, in Oppenheimer eingebüßt. Die Politiker dort sind zur Entscheidungsfindung unfähig, zumindest wenn diese verlangt, die eigenen Interessen hinten an zu stellen. Geschichte machen dort nicht diese, sondern Wissenschaftler vom Schlage Einsteins und Oppenheimers. Fand die Zukunft in Tenet Handlungsfähigkeit einzig im Glauben, bestimmt Oppenheimer dessen Objekt als Technik – was die beiden Filme in eine überraschende Nähe zueinander rückt.

Konrad

- Konrad Bucher